Sie hatte wahrscheinlich stundenlang hier
gesessen, jedenfalls war ihr Körper völlig verkrampft. Unglaublich, was
die Magier einst vermocht hatten. Es schien wirklich zu stimmen: Magie
konnte alles möglich machen, wenn man nur in der Lage war, es sich
vorzustellen. In ausreichendem Detail natürlich. Das Problem war, auf
manche Dinge kam man einfach nicht so von selbst. Sie senkte den Blick
wieder auf das Buch. Dieser letzte Zauber, der sie so verblüfft hatte,
daß sie sogar ihre fieberhafte Lektüre unterbrach, ließ sich leicht
ausprobieren. Es würde sie allerdings einige Überwindung kosten, das
wußte sie jetzt schon.
Durna stand auf und ging hinüber zu dem übermannshohen Spiegel, der an
einer Wand des Labors befestigt war. Sie hatte bisher noch nicht
herausfinden können, wozu die Alten ihn gebraucht hatten – bestimmt
nicht, um den Sitz ihrer schwarzen Roben zu überprüfen!
Spiegel haben viele Verwendungsmöglichkeiten ... murmelte die fast unhörbare Geisterstimme der Wände.
›Sicher‹, dachte Durna. ›Aber ich habe noch nie von dieser hier gehört.‹
Sie flüsterte ein Wort, das dennoch laut und häßlich durch den Raum
hallte. Dann berührte sie die makellose Oberfläche des Spiegels. Um
ihre Fingerspitzen zogen sich feine Wellen. Sie schloß die Augen und
preßte ihr Gesicht gegen sein Spiegelbild. Kälte überzog ihren ganzen
Körper. Erst als das Gefühl verschwunden war, trat Durna zurück und
öffnete die Augen, genau wie in dem Buch vorgeschrieben.
Fast hätte sie aufgeschrien. Sie blickte in eine spiegelnde Maske ohne
Gesicht und Kontur. Über ihrem Kragen saß ein eiförmiges, spiegelndes
Ding, das von zerrauften kurzen Haaren gekrönt war.
»Wordon mé!« flüsterte sie. Der Fluch war deutlich zu hören. Sie hatte
keine Schwierigkeiten beim Atmen, Sprechen oder Sehen, doch die Maske
war durchaus substanziell, wie sie bei einer vorsichtigen Berührung
feststellte. Dabei bemerkte sie ihre silbernen Finger.
›Schade, daß gerade kein feindlicher Magier bei der Hand ist‹, dachte
sie, denn der Zauber diente zur Abwehr jeder beliebigen gegnerischen
Magie. ›Aber man kann nicht alles haben.‹
Nun mußte sie nur noch den Rest des Zaubers vollenden, um die
spiegelnde Maske wieder loszuwerden. Sie sprach ein zweites Wort, das
tief im Hals kratzte, und hielt ihre Hand waagerecht. Mit einem
Kribbeln floß die Silberhülle über ihre Haut und sammelte sich in einer
Kugel auf ihrer Handfläche. Schnell zog sie mit der Linken den kleinen
Dolch, den sie am Gürtel trug, und ritzte den rechten Handballen, so
daß sich ihr Blut mit dem Spiegelsilber mischen konnte. Die Kugel wurde
augenblicklich fest und schwer.
Geistesabwesend heilte Durna den Schnitt in ihrer Hand. Wenn das Buch
Recht hatte, war diese Kugel ein mächtiger Verteidigungszauber, den sie
bei sich tragen und immer wieder aufrufen konnte. Außerdem dürfte es
einen Feind schockieren, sie auch nur mit der Spiegelmaske zu sehen.
Sehr nützlich.
Solange du auf keinen triffst, der sich auch eingespiegelt hat.
Die Wand. Natürlich.
Aber das ist heutzutage wohl kaum anzunehmen. Früher gab es Vorfälle,
bei denen ganze Landstriche verwüstet wurden, weil sich zwei
unverletzliche Magier im Kampf gegenüber standen.
»Darum gibt es heute auch so wenig mächtige Zauberer.« Durna
steckte die Kugel in einen Lederbeutel und schlug das Buch zu, in dem
sie so lange studiert hatte. Es wurde Zeit, sich wieder den Vorgängen
in der Außenwelt zuzuwenden.
Der große Wandspiegel stand unberührt glänzend da, als habe er nicht
gerade ein wenig von seiner Substanz gespendet, bemerkte sie beim
Hinausgehen. Sie warf ihm ein Lächeln zu, dachte sie doch daran, zu was
für anderen Dingen er vielleicht noch zu gebrauchen war.
Sie sah nicht, wie ihr Lächeln entgegen jedem Gesetz einer Spiegelung
noch für einen Moment hängen blieb, bevor so etwas wie ein hauchdünner,
blutiger Schleier die Klarheit der Spiegeloberfläche kurz eintrübte und
es verschwand.